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3 Paar Socken und eine Hängebrücke

Jedes Projekt beginnt mit einer Zeremonie – der Mensch zwischen Himmel und Erde

DIE WELT WIRD DURCH DEIN BEISPIEL VERÄNDERT, NICHT DURCH DEINE MEINUNG

PAOLO COELHO

DRAKE BAY. Es ist 3:33 Uhr nachmittags, 33 Grad, und ich schäle mich gerade aus 3 Paar Socken, weil die Gummistiefel viel zu groß sind.

Trotzdem kann ich mir nur auf die Schulter klopfen, dass ich Sarahs Angebot der Gummistiefel angenommen habe, denn mit meinen halbhohen wasserdichten Wanderstiefeln wäre ich heute nicht weit gekommen. Mit ein paar Freunden und Einheimischen, die hier alle liebevoll „Ticos“ nennen, durchstreiften wir die unglaublich schöne, unberührte Natur des Primärwaldes hier direkt neben dem Corcovado-Nationalpark, bewaffnet mit Macheten (um überhaupt durchzukommen) und – Gummistiefeln. Immer wieder kletterten wir steile Hänge hinauf und hinunter, wateten durch Flüsse, sprangen von Fels zu Fels, badeten in metertiefen Pools und standen unter drei unglaublich schönen, tosenden Wasserfällen. So viel zur Zahl drei. Von der drei Meter langen Boa Constrictor erzähle ich euch dann später.

Die Weihnachtszeit hier in Costa Rica ist so anders als zu Hause in Düsseldorf. Die Farben, ich glaube, hier gibt es nichts Graues. Mitten im Regenwald findet man überall die buntesten Blumen. Es ist, als hätte ein englischer Gartenarchitekt im 18. Jahrhundert hier seine Hand angelegt. In den letzten zwei Jahren war ich hauptsächlich in der Regenzeit hier. Jetzt, im Dezember, ist es hier Sommer, und abgesehen vom Morgentau auf den fleischigen Blättern und Blüten, auf den viel zu dicken Grashalmen und den Flügeln dieser krassen Flugkäfer, die fast so groß sind wie die gleichnamigen Autos, ist es hier ziemlich trocken. Überall glitzernde Weihnachtsbäume, natürlich viel bunter als zu Hause, und spanische Folkloremusik aus der Konserve – das ist schon was.

Die erste Woche habe ich bei meinem Cousin Karl und seiner wunderbaren Frau Ximena verbracht, bin mit meinem 90-jährigen Onkel Vinzenz im Country Club schwimmen gegangen und habe dank Karl jetzt ein eigenes Auto hier. Mietwagen sind hier unglaublich teuer, und ich brauche einen Geländewagen, denn der Süden des Landes ist wild, sehr wild, man muss in der Lage sein, Flüsse zu überqueren und die steilsten ungepflasterten Straßen zu meistern. Um von Perez Zéledon auf die Halbinsel Osa zu gelangen, schickte mich Waze (das Navigationssystem Mittelamerikas) über einen 2.500 m hohen Berg. 

Als ich es merkte, war es schon zu spät. Nach einem Erlebnis im Januar 2022, als ich bei einer kleinen Ansammlung von Hütten nördlich von San José stecken blieb, hatte ich mir geschworen, nur noch auf Straßen mit Bushaltestellen zu fahren. Ich musste 2,5 Kilometer rückwärts fahren. Der Hügel war zu steil und die Straße zu schmal, um umzukehren. Unnötig zu erwähnen, dass es sich um eine ungepflasterte Schotterstraße handelte und ich die ganze Zeit wie Espenlaub zitterte. Die Ansammlung von Häusern, die mich lehrte, angesichts der Topografie demütig zu werden, hieß BERLIN. Ihr könnt sie auf Google Maps suchen. Seitdem schaue ich immer, ob es Bushaltestellen gibt. Ich denke mir: Wenn ein Bus diesen Weg fahren kann, dann kann mein Auto das auch.

Die Strecke von letzter Woche von Pérez Zeledón zum Museo Finca 6, das am Anfang der Osa-Halbinsel liegt, war idyllisch und sehr naturnah, und von Kilometer zu Kilometer wurde sie langsam und fast unmerklich zu einer noch größeren Zumutung als BERLIN 2022. Irgendwann, ich war schon ziemlich angespannt, stoppte ich an einer Weggabelung, und blickte vor eine grüne Wand. Der gewundene, schmale Weg schien ganz merkwürdig wie eine holländische Brücke vor mir hochgeklappt, völlig zugewachsen und war kaum noch als Straße zu erkennen. Ein gutes Pferd hätte ihn nicht bewältigen können. Vielleicht ein Esel. Ich kehrte wieder um.

Die Alternative war im Vergleich dazu harmlos, bis sich mein neues, treues Auto plötzlich vor einer 300 Meter langen, schmalen, selbstgebastelten Hängebrücke wiederfand. Ich weiß wirklich nicht mehr genau, wie ich das geschafft habe. Aber jedes Mal, wenn ich daran denke, habe ich ein sehr komisches Gefühl.

Trotzdem bin ich froh, hier zu sein. Ich bin auf der Suche nach einem Ort, an dem ich meine Regenwald-Akademie zum Leben erwecken kann. Einem Ort, an dem die Magie der Natur ihre volle Kraft auf meine Schüler entfalten kann. Es muss in Ort sein, an dem jeder, um dorthin zu gelangen, aus seinem gewohnten Leben aussteigen muss. Um sich wieder mit etwas völlig anderem zu verbinden. Ich habe mir auf dieser Reise schon viele Projekte im ganzen Land angesehen, in der „Blue zone“ im trockenen und heißen Guanacaste, wo es die meisten 100-jährigen Menschen auf der Erde gibt, in den kühlen Bergen nördlich von San José, umgeben von Nationalparks, im landwirtschaftlich geprägten Pérez Zeledón, aber es zieht mich immer wieder hierher auf die Halbinsel Osa, wo es hier im Corcovado-Nationalpark die größte Artenvielfalt der Erde gibt.

Jetzt ist es an der Zeit, die vielen schönen Grundstücke zu bewerten und zu vergleichen und irgendwann eine Entscheidung zu treffen. Aber erst einmal werde ich eine Pause einlegen und mich entspannen. Die letzten 2 Wochen waren sehr intensiv und ereignisreich, die Tage lang und aktiv. In Santa Ana (der Stadt im Großraum San José, in der Karl und Ximena leben) gab es auf dem Weihnachtsmarkt Glühwein (aus Schnapsgläsern) aus „unserem“ Berlin, ein kleiner Trost dafür, dass ich dieses Jahr nicht mit Euch auf dem Burgplatz stehen konnte. Ich wünsche euch eine wunderbare Weihnachtszeit mit Glühwein aus richtigen Bechern, umgeben von unserem einzigartigen, unvergleichlichen Grau, mit vielen lustigen Weihnachtsfeiern, Gänseessen und o du fröhliche.